Julia oder auch Janne – unterwegs auf dem Jakobsweg – begegnete mir in einem Hostel in Luzern direkt am von Nobelhotels geschmückten Vierwaldstättersee. Ich hatte zwei Tage Leerlauf zwischen meinen Interviews und fand die Aussicht, diese in dieser fast schon unwirklich idyllisch anmutenden Kulisse zu verbringen, recht ansprechend. Zwischen Sparplänen und Komfort hin und her gerissen entschied ich mich für ein Zweierzimmer mit Etagenbett. Ich fand das irgendwie eine gute Mischung aus „meine Ruhe haben“ und „dem Schicksal lustige Optionen“ zu öffnen. Doch meine neuseeländische Zimmernachbarin war kein sozialer Jackpot und ließ sich auch durch keinen Small-Talk aufheitern. So saß ich lieber im Hostel-Wohnzimmer und schaute mit großen Augen in das unendliche Internet.
„Sorry, aber ich habe seit drei Tagen mit niemanden geredet“
Kurz bevor ich schlafen gehen wollte, betrat eine für diesen Ort besonders aussehende Frau die Bühne. Bemerkenswerte Klamottenauswahl, ein halbdurchsichtiges Top mit Bikinioberteil drunter, dazu Outdoorklamotten. Die Haar sehr kurz und an den Ohren baumelten lange Holzohringe und entfachten in mir Gedanken an meine Jugend in den 80igern. Sie stand suchend vor dem Bücherregal und schwang sich dann auf den schweren Ledersessel neben mir und fing unvermittelt an zu reden. Wobei „Reden“ war das falsche Wort, ein bombastisches Wortkonzert strömte auf mich ein und ich wurde hellwach, da das Gesamtarrangement dieser Frau mich total faszinierte. Nach ungefähr 10 Minuten hielt sie kurz inne, schaute mich an und sagte: „Sorry, wenn ich dich hier überfalle, aber ich habe seit drei Tagen mit niemanden gesprochen.
Unterwegs zu sich Selbst
Sie redete und redete weiter und ich folgte ihren Gedanken und Gefühlen gespannt. Janne, „sweet nineteen“, war seit einem Monat als Pilgerin unterwegs auf dem Jakobsweg. Das geografische Ziel in weiter Ferne. Vielleicht in vier Monaten in Santiago de Compostela ankommen oder auch am Kap Finisterre mit Blick über den Atlantik. Alleine, draußen schlafend und mit nicht mehr gerüstet, als sie in ihren Rucksack tragen kann. Und auch das hatte sich schon relativiert. Was am Anfang noch unverzichtbar schien, wurde unter der nicht endenden Strecke schwerer und schwerer und verlor irgendwann seine Berechtigung. Ihre Worte und Gedanken an diesem Abend knüpften für mich nahtlos an meine Gespräche und Interviews der letzten Tage an.
Nach ungefähr einer Stunde fragte sie mich, was mich eigentlich hier her führt- Urlaub? Ich musste grinsen und es war wie eine gutwillige Verschwörung. Ich fragte sie, ob sie mir am nächsten Tag ein Interview geben würde. Janne war etwas erstaunt, aber fühlte sich vom Chef-Cheorgrafen des Zufalls ebenfalls gut unterhalten.
Bin ich wer?
Als ich sie fragte, was sie in dieses Abenteuer trieb, sagte sie fast schon etwas zu ruhig und besonnen für „Unter 20“: „Ich weiß zwar was meine Berufung ist, aber noch nicht wer ich bin“. „Kawumm“- dieser Satz saß bei mir wie Elastan. 19 Jahre und schon klar, was im Nebel liegt. Und es sind höchstwahrscheinlich keine Gorillas…
„Ich möchte etwas auszudrücken, was wahr ist, was ehrlich ist. Und Ehrlichkeit zu sich selber ist auch etwas, was man erst einmal üben muss“
Ich habe letztes Jahr mein Abitur gemacht und mich sofort in mein Studium gestürzt – Germanistik und Kunstgeschichte – in der Hoffnung, es würde mich vorbereiten für das, was ich eigentlich machen will. Und ich dachte das Studium hätte den zweiten Nebeneffekt – Sicherheit. Aber es hat mich nicht weitergebracht für das, was ich eigentlich in mir trage und was aus mir raus kommt, wenn ich es lasse. Denn ich möchte Theater studieren und machen. Ich möchte etwas auszudrücken, was wahr ist, was ehrlich ist. Und Ehrlichkeit zu sich selber ist auch etwas, was man erst einmal üben muss.
Sich gehen lassen
Unser Interview am nächsten Tag war erwartungsgemäß wunderbar. Die Geschichte ihres Aufbruchs in die Pilgerschaft sehr berührend. Ihr Haar hatte sie sich kurz vor Aufbruch zusammen mit einem Freund abrasiert. Mir erschien dies als Zeichen des Wollens und Könnens. Als Verabredung mit der Ernsthaftigkeit des Losgehens in etwas Unbekanntes. Aber auch als eine schelmenhaftes Zusammentreffen mit der fast unfassbaren Freiheit des eigenen Lebens. Und als eine sichtbare Veränderung, die jetzt nicht mehr aufzuhalten war. Und darauf folgte für sie dann die Pilgerschaft, das wirkliche „Losgehen – auch ein „sich gehen lassen“:
„Ich habe die Herausforderung gesucht, wie weit kann mein Körper gehen am Tag, wie lange halte ich das aus? Aber auch: Wie halte ich das aus, besonders das alleine sein? Und das war wirklich das Härteste. Und mittlerweile finde ich es so nährend, alleine zu sein“.
Das konnte ich so gut nachfühlen. Mir war es ähnlich ergangen während meiner für mich abenteuerlichen Exkursionen alleine in die Natur oder auf Reisen um die Welt. Die Angst vor der Angst, mich einsam zu fühlen war groß. Die wunderbare Leichtigkeit mit mir selbst so eng befreundet sein zu können dann noch viel größer.
Aufbruch – Fühlen – Wahrheit
Es war, als wenn sich plötzlich in diesem schönen, aber auch langweiligen Hostel eine Tür aufgetan hatte, die Janne und mich plötzlich in ein gemeinsames Universum unseres Suchens und Findens beförderte. Jeder an einem ganz anderen Punkt der Reise, aber einig über das Ziel: Aufbruch – Fühlen – Wahrheit.
Weitere Auszüge von unseren Gesprächen über Sinnsuche, Berufsplanung und Berufung findet ihr bald in meinem Blog und später auch in dem folgenden Buch.
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